Sehr geehrte Frau Landammann
Sehr geehrter Herr Landammann
Sehr geehrte Mitglieder der Standeskommission
Wir bedanken uns für die Möglichkeit einer Stellungnahme zur Totalrevision des Polizeigesetzes (PolG) und zur Verordnung des Polizeigesetzes (VPol), die wir wie folgt wahrnehmen.
Grundsätzliches
Die Sozialdemokratische Partei Appenzell Innerrhoden (SP AI) unterstützt grundsätzlich die Neuformulierung des Polizeigesetzes, das inhaltlich und in der Ausformulierung Übereinstimmendes mit Polizeigesetzen mehrerer anderer Kantone (u.a. SG, LU und ZH) aufweist, was auf eine sinnvolle Nutzung von Synergien hinweist. Wir legen in unserer Stellungnahme einen Schwerpunkt auf den Bereich der Anwendung verhältnismässiger polizeilicher Massnahmen bei Minderjährigen.
Zu Art. 12 Minderjährige
1 Es ist sinnvoll und wichtig, eine Formulierung zur Schutzbedürftigkeit Minderjähriger im Gesetzestext aufzunehmen. Aus Sicht der SP AI ist die gewählte Formulierung in Absatz 1 zu wenig konkret. Auch in der Verordnung des Polizeigesetzes fehlen Präzisierungen zur Berücksichtigung des Alters und Entwicklungsstandes Minderjähriger bei der Anwendung polizeilicher Zwangsmassnahmen. Die SP AI erwartet zu diesem sensiblen Bereich der Anwendung verhältnismässiger polizeilicher Massnahmen Konkretisierungen.
Gemäss Schweizerischem Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) braucht es drei Kriterien für verhältnismässige polizeiliche Massnahmen bei Minderjährigen. Dokument:
https://skmr.ch/assets/publications/180816_Tagungsdokumentation_Polizei_Minderjaehrige.pdf
Einschränkung durch polizeiliche Massnahmen
«… Verhältnismässig ist eine polizeiliche Massnahme, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Sie muss geeignet sein, dem öffentlichen Interesse oder dem Schutz von Grundrechten Dritter zu dienen sowie erforderlich bzw. notwendig sein (es dürfen keine milderen, gleich wirksamen polizeilichen oder anderen Mittel zur Verfügung stehen). Schliesslich muss eine polizeiliche Massnahme auch zumutbar sein: Zwischen den verfolgten öffentlichen Interessen und der Belastung für die Freiheit der Betroffenen muss ein vernünftiges Verhältnis bestehen.»
Besonderheiten im Umgang mit Minderjährigen
«Geht es um Kinder und Jugendliche, gelten für die Anwendung dieser Grundsätze einige Besonderheiten. Kinder und Jugendliche sind, gerade auch im öffentlichen Raum, aufgrund ihres Alters, ihrer Abhängigkeit von Erwachsenen, ihrer ungefestigten Persönlichkeit und ihrer unter Umständen fehlenden Urteilsfähigkeit besonders verletzlich. In Anbetracht dessen müssen Kinder gegebenenfalls gegen ihren Willen und/oder vor sich selber geschützt werden, während die Polizei nur zurückhaltend gegen den Willen von urteilsfähigen Erwachsenen zu deren Schutz intervenieren darf. Das öffentliche Interesse besteht in solchen Fällen regelmässig in der Wahrung des Kindeswohls. Beispiele dafür gibt es viele, etwa Hilfeleistungen für ein von zu Hause weggelaufenes Kind. Orientierungspunkt für das polizeiliche Handeln sind die Persönlichkeitsrechte der Kinder und Jugendlichen und das Kindeswohl. Polizeiliche Massnahmen müssen deshalb erstens die besondere Schutzbedürftigkeit sowie das Alter und den Entwicklungsstand berücksichtigen. So soll sichergestellt werden, dass nicht mehr als nötig in die Grund- und Menschenrechte der Minderjährigen eingegriffen wird. Dieser Grundsatz ist besonders wichtig beim Einsatz von polizeilichen Zwangsmassnahmen, z.B. beim Verbringen auf die Wache, bei der Durchsuchung von Taschen oder beim Einsatz von Reizstoffen bei Kundgebungen. Zweitens sind die Erziehungsrechte der Eltern zu achten: Erziehungsberechtigte Eltern sind grundsätzlich so rasch als möglich zu informieren und einzubeziehen. Drittens ist die rechtliche Eigenständigkeit der Minderjährigen zu achten: Urteilsfähige Kinder und Jugendliche haben das Recht, zu allen sie betreffenden Massnahmen angehört zu werden und ihre Meinung ist angemessen zu berücksichtigen. Der Verfolgung dieser Ziele dient eine Vielzahl von Schutznormen auf verschiedenen Stufen.»
Die rechtliche Verankerung im Überblick
«Art. 11 der Bundesverfassung (BV) räumt allen Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit ein. Aufgrund der Erziehungs- und Betreuungsbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen ist ihr Schutzanspruch gegenüber dem Staat umfassender als jener von Erwachsenen. Zudem müssen Schutzmassnahmen ihrer besonderen Situation angepasst sein. Geschützt sind dabei alle Minderjährigen vor der Vollendung ihres 18. Lebensjahres, grundsätzlich unabhängig von ihrer Nationalität und ihrem Aufenthaltsstatus. Adressaten der Bestimmung sind sämtliche Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Folglich richtet sie sich auch an die Polizei. Der Anspruch von Minderjährigen auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit ergibt sich auch aus dem Völkerrecht. Namentlich die beiden UNO-Pakte (Art. 23 und 24 UNO-Pakt II; Art. 10 UNO-Pakt I) sowie die Kinderrechtskonvention (Art. 3 Abs. 2, Art. 18 Abs. 2, Art. 19, Art. 20, Art. 23, Art. 32 ff. und Art. 39 KRK) räumen Minderjährigen Schutz vor staatlichen Massnahmen ein. Von herausragender Relevanz ist hierbei die Kinderrechtskonvention, deren Präambel dieses besondere Bedürfnis nach Schutz, Fürsorge und Unterstützung betont. In der Konvention werden Kindern individuelle Rechte zugesichert, so zum Beispiel die in Art. 12 KRK: Alle urteilsfähigen Kinder und Jugendlichen haben das Recht, von den Behörden angehört zu werden. In Art. 3 Abs. 1 KRK wird zudem das Kindeswohl bei allen staatlichen Massnahmen, also auch in der Polizeiarbeit, zu einem vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt erklärt. …»
2 Aus Sicht der SP AI geht es bei der Wahrung der Information seitens der Polizei nicht nur um Informationsbedürfnisse gegenüber der gesetzlichen Vertretung Minderjähriger, wie dies in Absatz 2 ausgeführt wird, sondern es besteht eine Informationspflicht.
Ausführungen dazu befinden sich im oben aufgeführten Dokument des SKMR: Besonderheiten im Umgang mit Minderjährigen:
«… Zweitens sind die Erziehungsrechte der Eltern zu achten: Erziehungsberechtigte Eltern sind grundsätzlich so rasch als möglich zu informieren und einzubeziehen. …»
Art. 28 Information von Privatpersonen und Behörden
1 Diese Formulierung ist zur Abwehr und Verhütung ernsthafter Gefahren sehr wichtig, zumal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil vom 3. April 2025 entschieden, dass die Schweiz einer Frau keinen ausreichenden Schutz gegen ihren in der Vergangenheit gewalttätigen Partner gegeben hat. Die Behörden hätten in ihrer Gesamtheit nicht die notwendigen Schritte unternommen, um diese Frau über die Gefahr zu informieren und sie zu schützen. Damit habe die Schweiz das in der Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf Leben verletzt.
https://www.srf.ch/news/international/gerichtshof-fuer-menschenrechte-egmr-verurteilt-schweiz-frau-ungenuegend-vor-gewalt-geschuetzt
Wir danken Ihnen für die Kenntnisnahme unserer Stellungnahme.
Freundliche Grüsse
Sozialdemokratische Partei Appenzell Innerrhoden (SP AI)
Daniela Mittelholzer Martin Pfister
Co-Präsidentin Co-Präsident